
Herr Rüdiger, im Bildungsbericht 2018 heißt es, dass die Deutschen zwar immer gebildeter werden, gleichzeitig aber die Kluft zwischen gebildeten und abgehängten Menschen wächst. Was sagt das übers Bildungssystem?
Roman Rüdiger: Wir haben das selektivste Bildungssystem in Europa. Herkunftsbedingte Nachteile sind so stark wie nirgendwo anders, es gibt eine hohe Korrelation zwischen dem Elternhaus und dem Schulerfolg. Allerdings sind Schulerfolg und Bildungserfolg nicht das Gleiche.
Was heißt das?
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Schulerfolg ist gleichbedeutend mit guten Noten und dem Erwerb eines Bildungszertifikats wie einem Abiturzeugnis. Er misst mehr Wissen als Kompetenzen. Doch in den meisten Zeugnissen steht nichts über die Fähigkeiten, die die meisten großen Unternehmen suchen: Kooperation, Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken. Dabei machen genau diese Kompetenzen den Menschen erfolgreich. Und genau dieser Kompetenzerwerb ist gleichbedeutend mit Bildungserfolg.
Warum wird so etwas an deutschen Schulen nicht berücksichtigt?
Im Moment fehlt uns eine Diskussion am Puls der Zeit. Die Welt verändert sich rasend schnell, sechzig Prozent der heute 16-Jährigen werden später in Berufen arbeiten, die es noch gar nicht gibt. Die Frage ist, wie Schule darauf vorbereitet. Die Konzepte, die man aktuell in Schulen findet, geben darauf keine Antworten, denn über die Kompetenzen des 21. Jahrhunderts wird noch gar nicht diskutiert. Wir denken nur an die Gegenwart, nicht an die Zukunft.
Unser Bildungssystem ist auf Globalisierung und Digitalisierung also gar nicht vorbereitet?
Nur sehr schlecht. Wir sind in einem epochalen Umbruch, ähnlich wie beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Damals hat sich die gesellschaftliche Realität so schnell verändert, dass viele mit ihren Fähigkeiten nicht nachgekommen sind und in soziale Isolation gefallen sind. Erst, als das Schulsystem neu aufgebaut wurde und eine Schulpflicht eingeführt wurde, änderte sich das. Jetzt sind wir wieder an so einem epochalen Wechsel – deshalb müssen wir es wieder schaffen, dass wir unsere Kinder passend zu qualifizieren.
Wenn Sie also unserem Bildungssystem eine Note geben müssten …
… wäre es sicherlich keine Drei mehr. Es gibt einige Schulen, die ihrer Zeit voraus sind und einige, die stark hinterherhinken. Einzelne Schulen oder einzelne Lehrkräfte arbeiten zeitgemäß und machen einen tollen Job. Doch junge Lehrerinnen und Lehrer, die jetzt aus der Uni kommen, sind überhaupt nicht fit in Sachen digitales Lernen. Denn schon allein die universitäre Lehrerausbildung ist nicht am Stand der Zeit.
„Education Y“, dessen Geschäftsführender Vorstand Sie sind, setzt sich für dieses veränderte Lernen ein. Wie kann das aussehen?
Die zentrale Stellschraube für kompetenzorientiertes Lernen ist die Haltung und Handlung der Lehrkraft. Lehrer bringen Schülern nichts bei, sie bieten eine Lernmöglichkeit an. Was der Lehrer sagt, kommt in einer Schulklasse 26 Mal unterschiedlich an. Kompetenzorientierung entsteht dadurch, dass Lehrerinnen und Lehrer in einer veränderten Haltung Lernprozesse entwickeln, die zum Mitwirken, zum eigenständigen, motivierten Erarbeiten von Inhalten und Kompetenzen anregen.
Zur Person
Roman R. Rüdiger (52) ist Sozialpädagoge und Sozialmanager. Er ist seit 13 Jahren Geschäftsführender Vorstand der Organisation „Education Y“, die Bildungsprogramme für eine neue Lernkultur entwickelt. Er war Gründer des Bundesverbandes Innovative Bildungsprogramme.
Zur Sache
Die Conrad-Naber-Lecture
Roman R. Rüdiger ist einer der Gäste, die am Montag, 22. Oktober, bei der elften Auflage der Conrad-Naber-Lecture „Visionen“ über die Frage diskutieren, welche Antworten die Erziehungswissenschaften auf die Umbrüche in der modernen Gesellschaft hat. Die Veranstaltung beginnt um 19 Uhr im Großen Saal der Handelskammer Bremen und wird von den Unifreunden Bremen ausgerichtet. Zu Gast sind neben Rüdiger auch Franz Jentschke, ehemaliger Direktor der Gesamtschule Bremen-Ost sowie Andreas Schleicher, Direktor für Bildung und Kompetenzen der OECD. Moderiert wird die Diskussion von Christian Berg.